Textatelier
BLOG vom: 16.11.2009

Lindental BE: Wohnen unter mächtigen Sandsteinformationen

Autor: Walter Hess, Publizist, Biberstein CH (Textatelier.com)
 
Falls Sie noch nie in der geschlossenen, kantonal-bernischen Strafanstalt Thorberg an privilegierter Lage in der Gemeinde Krauchthal BE zusammen mit Männern lebten, die wegen Tötung, Raub oder Sittlichkeitsdelikten Einsitz haben, oder nicht in der übrigen weiteren Umgebung von Bern oder Burgdorf wohnen, dürfte Ihnen der Begriff Lindental wenig sagen. Ich rede aus Erfahrung, nicht was Thorberg anbelangt, sondern hinsichtlich der Lindental-Kenntnisse. Ein einziges Mal kam ich auf einer Fahrt von Bern via Bolligen ins Emmental an Krauchthal (Amtsbezirk Burgdorf) vorbei und war von den dortigen Sandsteinformationen beeindruckt. Damals dachte ich, es wäre an der Zeit, einmal etwas genauer hinzusehen. Am schönen, von Regenwolkenbergen begleiteten Spätherbsttag vom 06.11.2009 konnte ich die Reise dorthin mit einem Termin in der Nähe verbinden.
 
Etwas Krauchthaler Geschichte
Die freundliche, dienstbereite Postbeamtin von Krauchthal, einem typischen, behäbigen Berner Dorf mit allen Attributen von rechtschaffener Wohnlichkeit, suchte für mich einen Plan 1:10 000 der Gemeinde Krauchthal heraus, der auch einen kurzen Überblick über die Ortsgeschichte gibt. Er bringt zur Kenntnis, dass die Geschichte von Krauchthal und Hettiswil (mit Grauenstein und Hängelen) durch die Karthause in Thorberg und das Cluniazenserpriorat Hettiswil (benediktinischer Reformorden) beeinflusst ist. Von der 1175 erstmals erwähnten Burg der Herren von Thorberg (das waren noch keine Strafgefangenen) ist nur noch ein Rest des Turmfundaments übrig geblieben. Mit dem letzten Ritter von Thorberg, Peter, starb sein Geschlecht aus. Peter von Thorberg hatte seine Güter 1397 dem katholischen Kartäuserorden vermacht, der die eremitische mit der monastischen (mönchischen) Lebensweise verbindet. In der Folge siedelten sich hier Mönche und Laienbrüder an, die bis zur Reformation (1528) den herrlichen Blick ins Lindental und auf der anderen, nördlichen Seite gegen Hettiswil und Hindelbank hoffentlich genossen haben. Nach der Reformation behändigte der Staat Bern den Klosterbesitz und machte ihn allzu weltlichen Zwecken dienstbar – vom Pfründerhaus und Landvogteisitz bis zur Strafanstalt (seit 1850). Der historische Bestand wurde immer wieder erweitert; die länglichen 3-stöckigen Bauten – 2 auseinander gezogene Winkelhaken, in denen man sich verfangen kann, sehen wie Kasernen vom Reissbrett eines talentierten Architekten aus. Sie dominieren das Landschaftsbild, mahnen zu einem anständigen, untadeligen Verhalten.
 
Zu den Felshäusern im Lindental
Der weiche Sandstein in der Umgebung mit seinen Höhlen und Unterständen eignete sich schon immer auch für gewöhnliche Wohnzwecke – mit oder ohne Gitter. Unter der Sandsteinformation „Giraffe“ an der Sandsteinflühe gibt es noch heute 2 Felswohnungen bzw. in den Fels eingelassene Wohnhäuser, die seit dem 16. Jahrhundert z. B. von Webern und Landwirten ständig bewohnt waren und es heute noch sind, die so genannten Fluehüsli. Möglicherweise haben bereits zur Römerzeit oder gar zur Urzeit Menschen dort Unterschlupf gesucht.
 
Um sie zu sehen, fährt man von Krauchthal gegen Süden ins Lindental hinein, lässt sich von der Abzweigung nach Hueb und Bolligen nicht beeindrucken und erreicht geradewegs nach etwa 1 km (vom Dorf aus gerechtet) das Lindefeld, wo ein Wanderwegweiser zu den Fluehüsli zeigt. Auch von der Strasse aus sind sie zu entdecken. Man kann dort das Auto abstellen (eine Strasse ist vor der Einmündung zu diesem Zweck etwas verbreitert) und dann, den Wanderwegweisern folgend und einen Bauernhof passierend, den Fluehüsliweg hinauf ansteigen. Dort sind zuerst einmal neuere Wohnhäuser, eines mit Solarpanels und einer mächtigen Blautanne. Von einem Elch-Warnsignal, das ein Witzbold wahrscheinlich aus Kanada mitgebracht hat, braucht man sich nicht besonders verängstigen zu lassen. Aber immerhin leben dort oben eine Gämskolonie und Füchse, die ebenso ungefährlich sind.
 
Sind diese neueren Häuser an den Hang gebaut, haben die eigentlichen, berühmten Fluehüsli ihren Standort aber unter einer vorkragenden Felsfalte. Die Häuser unter dem Stein können heute auch durch einen Seilbahn-ähnlichen Schrägaufzug mühelos erreicht werden.
 
Das Haus, das man zuerst antrifft, fand unter dem Felsen offenbar nicht genügend Platz. Ein mit Eternit bedecktes, steiles, vorkragendes Schrägdach sorgt für den zusätzlichen Raumbedarf. Ich habe dort niemanden angetroffen, schloss aber aufgrund der vielen Sammlerobjekte wie Sonnenblumenrosetten, Kürbisse, Schnitzereien und Brennholz und einer Brettchenbrücke für die Katze auf eine naturverbundene Lebensweise der Bewohner. Sogar eine Feigentopfpflanze gedeiht im Eingangsbereich. Das 2. Häuschen ist offenbar 1993 perfekt restauriert worden, und der weich geformte Sandsteinfels bildet in diesem Fall auch das Dach. Die über 2 Etagen reichenden Fassadenbretter übernehmen die Wölbungen des Gesteins, und der Kamin tritt hervor, folgt der Felswand. Die Fenster sind mit Holz in beinahe klassizistischem Stil eingefasst. Das sieht gut aus, fügt sich einwandfrei in die Landschaft ein. Herbstfarbene Bäume und eine Schweizer Fahne schmücken den schmalen Vorplatz, der sich bald in einer Steilwand verliert. Ein Aussencheminée fehlt nicht.
 
Schwer zugängliche „Giraffe“
Der Wanderweg führt direkt an diesen beiden Felshäusern vorbei, ist gut gesichert und mit Steinschlag-Warntafeln versehen. Das zu einer dicken Schicht versammelte rot-braune Laub raschelte unter meinen Wanderschuhen. Der Weg dreht bald nach rechts, gegen den Hang, ab und führt über eine verwahrloste, ebenfalls unter Blättern begrabene, eher glitschige Treppe, die an einer Stelle eingebrochen ist, in die Höhe. Fast zuoberst ist eine Buche mit bis zu 1 m Stammdurchmesser in den Weg gefallen und macht in dem morastigen Lehm-Sand-Boden kleine Ausweichmanöver nötig, die einen ins Rutschen bringen.
 
Den höchsten Punkt der Sandsteinformation „Giraffe“ erreichte ich wegen der glitschigen Verhältnisse nicht. Ein Weg war zuoberst im Dickicht nicht auszumachen, und für Kletterpartien war ich nicht ausgerüstet. So steuerte ich denn auf die Chlosteralp zu, wo bei 2 uralten Linden ein Berner Bauernhaus neben einer Scheune steht. Es sind Holzbauten mit dem Reiz der Verwitterung. Das Wohnhaus hat ein allseitig breit ausladendes Dach, unter dem ein Balkon und eine Treppe ausreichend Platz finden. Ganz in der Nähe, das heisst vielleicht 500 m entfernt, grüsst der Bantiger mit dem Sendeturm. Die Chlosteralp Alp ist auf 760 m ü. M., also 160 m Höhenmeter über dem Talgrund des Lindentals.
 
Die Erschliessung durch Wald- und Wiesenwege dieser Alp erfolgt von Hub aus, mithin vom Tal auf der entgegengesetzten, westlichen Seite her, was einen Umweg bedeutet hätte. So musste ich wieder den gleichen, rutschigen Weg zurück, was ich gern verhindert hätte. Der Abstieg gelang mir, ohne den Hosenboden zu strapazieren. Als ich unten im Lindefeld ankam, traf ich erstmals auf dieser Wanderung einen Menschen, einen freundlichen Mann in den frühen Dreissigern, der hier seine schulpflichtigen Söhne einsammelte. Wir kamen in ein Gespräch, und es stellte sich heraus, dass er der Mieter und Bewohner des 2. Fluehüslis ist, Fabian Bühler. Seit etwa einem halben Jahr wohnt er dort und ist mit diesem originellen Heim glücklich. Es sei schade, dass er mir nicht das Innere zeigen könne, sagte er; aber er schicke mir einige Fotos. Ich gab ihm meine Visitenkarte. Die Bilder sind inzwischen zusammen mit „höhlisch lieben Grüssen" eingetroffen, und sie zeigen einen gepflegten, modernen Ausbau mit Sinn für Wohnlichkeit; nichts deutet auf eine Höhlenatmosphäre hin.
 
Zudem bestätigte mir Fabian Bühler, dass der Aufstieg auf den „Giraffen“-Felsen mühsam, beschwerlich und gefährlich sei – und zwar von beiden Seiten her. Vielleicht bessere er den Weg einmal etwas aus.
 
Wie ich später im Internet nachlesen konnte, war das Haus im März 2009 in diesem Medium zum Kauf angeboten worden, wobei ein Kaufpreis von 620 000 CHF angegeben war. Es wurde wie folgt beschrieben:
 
„Möchten Sie Besitzer einer Flue sein? Möchten Sie die Ruhe, Natur und eine wunderbare Aussicht geniessen? Sind Sie gut zu Fuss und scheuen keine Steigungen? Dann können wir Ihnen eine einmalige Gelegenheit bieten, eine ganz besondere Liegenschaft zu erwerben: das Fluehüsli. Es besteht aus einer top-ausgebauten 2,5-Zimmer-Wohnung (zirka 40 m2) und einer ebenso optimal ausgebauten 3,5-Zimmer-Wohnung (zirka 85 m2). Beide Wohnungen sind in den Fels gebaut und durch die Waschküche miteinander verbunden.“
 
Lindental im Lindental
Bevor ich mich zu den Sandsteinbrüchen bei Krauchthal begab (separates Blog), machte ich eine Fahrt durch das Lindental bis Boll, also durch eine dünn besiedelte, landwirtschaftlich und gewerblich akzentuierte Landschaft. Das Tal ist das Werk eines Seitenasts des Aaregletschers, der sich im Sandstein erfolgreich im Hobeln versuchte. Besonders der Weiler Lindental (Gemeinde Vechigen) auf einer kleinen, kaum spürbaren Kuppe des sich hier ausweitenden gleichnamigen Tals zog mich in seinen Bann. Dort sind zum Beispiel ein Rieg-Bauernhaus (Riegelbau, Fachwerkbau), ein Gruppenhof mit angegliedertem Stöckli und ein beschnitzter Speicher als Hälbling-Blockbau (Grundmaterial aus Rundholz) mit Bogenlauben zu bewundern. Hinter dem Schulhaus steht ein Hochstud-Taunerhaus. Man hat das Gefühl, hier im architektonischen Herzen des an traditioneller Bausubstanz überreichen Kantons Bern zu sein. Auch lädt der Gasthof „Linde“ an der Strasse ein – ein gut 150-jähriges ehemaliges Bauernhaus. Doch musste ich mich wegen des Zeitdrucks fliegend mit einem belegten Brötli aus dem Volg Krauchthal und einem Gemisch aus Tee und Süssmost verpflegen, das ich von Eva mit auf den Weg erhalten hatte.
 
Denn ich wollte ja noch mein Sandstein-Wissen mehren. Viel Steine gabs – und wenig Brot.
 
Hinweis auf ein weiteres Blog zum Bantiger-Gebiet
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